biologische Vielfalt und die Verantwortung des Menschen

biologische Vielfalt und die Verantwortung des Menschen
biologische Vielfalt und die Verantwortung des Menschen
 
Die fossilen Zeugen vom Leben auf unserem Planeten sprechen eine beredte Sprache: Erdgeschichtlich betrachtet erlebte die Tier- und Pflanzenwelt bereits mehrere katastrophale Schnitte, in denen jeweils ein großer Prozentsatz der damals lebenden Arten ausgelöscht wurde. Mehr noch: Es scheint so zu sein, dass solche Umbruchphasen geradezu die Voraussetzung für die Fortentwicklung des Artenschatzes auf der Erde waren. Der Spruch »Kein Werden ohne Vergehen« scheint hier seine biologische Legitimation gefunden zu haben. Zum dritten Jahrtausend deutet sich erneut ein großes Artensterben an — diesmal nicht verursacht durch Klimaumschwünge, Meteoriteneinschläge oder ähnlich umwälzende Naturereignisse, sondern als Folge menschlicher Aktivitäten. Der Mensch ist dabei, den biologischen Schatz des blauen Planeten, die noch nie da gewesene, millionenhafte Vielfalt an Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen, zu plündern. Immerhin erkennen immer mehr Menschen, welchen Wert die biologische Vielfalt eigentlich darstellt. Natur- und Artenschutz muss sich daher nicht länger nur auf religiös oder ethisch begründete Prinzipien der Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen berufen. Auch handfeste Interessen sprechen dafür, das vom Menschen verursachte Artensterben zu stoppen.
 
 Das Bewusstsein für Verantwortung erwacht
 
Berggorillas, Riesenpandas und Buckelwale, Steinadler, Wanderfalken und Auerhähne sind einige der wenigen Tierarten, deren drohende Ausrottung weithin die Gemüter erregt. Was geht hier vor? Können die Lebewesen um uns nicht mehr ohne Hilfe aus sich heraus überleben und weiter existieren, wie sie das von Anbeginn an getan haben? Reicht es nicht, dass wir eine Fülle von Gesetzen und Qualitätsstandards entwickelt haben für sauberes Trinkwasser, reine Atemluft und den Schutz der Umwelt? Müssen wir uns darüber hinaus auch noch um die Lebensbedingungen einer schier unüberschaubar großen Zahl anderer Organismen kümmern und uns um ihr Überleben Sorgen machen?
 
Den biblischen Auftrag »Macht euch die Erde untertan« hat der Mensch längst erfüllt. Dass wir dabei schon erheblich zu weit gegangen sind, lässt sich nicht mehr bestreiten. Als einziges Lebewesen hat Homo sapiens bisher die Erdoberfläche nachhaltig verändert. Viele halten ihn für eine Naturkatastrophe und meinen, dass er eher früher als später an den selbst verursachten Umwälzungen zugrunde gehen wird. Andere erhoffen sich von den Fortschritten in Wissenschaft und Technik die Lösung aller Umweltprobleme und die Reparatur der bereits angerichteten Schäden.
 
Rückblickend auf die letzten Jahrzehnte muss man feststellen, dass Pessimismus die öffentliche Meinung prägt. Wissenschaft und Technik schaffen mehr Probleme, als sie lösen, lautet ein gängiger Vorwurf. Die stärksten Gegenargumente liefert das Leben selbst. Über den unvorstellbar langen Zeitraum von dreieinhalb Milliarden Jahren hat es sich allen Widrigkeiten zum Trotz immer wieder durchgesetzt, und es hat dabei in seiner Vielfalt sogar zugenommen. Auch der Mensch hat in den gut zwei Millionen Jahren, seit denen er auf zwei Beinen über die Erde geht, alle Schwierigkeiten und Rückschläge überstanden und sich über den ganzen Planeten ausgebreitet. Er wurde damit zur erfolgreichsten aller bisherigen Lebensformen. Und er hat begonnen, sich seiner Verantwortung bewusst zu werden.
 
 Umdenken in Rio
 
Optimismus und Zukunftsfähigkeit sind Merkmale alles Lebendigen. Aber der Mensch will mehr und muss mehr wollen als blinden Optimismus. Er möchte und sollte die unzähligen Opfer vermindern oder vermeiden, die seinen Weg in die Zukunft begleiten. Der Homo sapiens, das weise oder zumindest vernunftbegabte Wesen, darf nicht blind für Zukünftiges weitermachen. Im Gegensatz zu seinen Mitgeschöpfen kann der Mensch die Zukunft planend gestalten. Das eröffnet Möglichkeiten und erzeugt Verpflichtungen. Ein knappes Jahrzehnt ist es her, seit sich die Staatengemeinschaft der Erde erstmals und ernsthaft mit der gemeinsamen, untrennbar miteinander verwobenen Zukunft von Entwicklung und Erhaltung der Lebensvielfalt befasste. Das geschah Ende 1992 in Rio de Janeiro.
 
Der »Erdgipfel von Rio« markiert den Wendepunkt im Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Erstmals in ihrer Geschichte versuchte die Menschheit ihr Verhältnis zur Natur im Hinblick auf die zukünftigen Entwicklungen neu zu ordnen. Zu diesem Zweck waren nicht nur die Regierungschefs und Umweltminister nahezu aller Staaten der Erde nach Brasilien gekommen, sondern auch zahlreiche und einflussstarke nicht staatliche Organisationen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Naturerhaltung und Entwicklung befassen.
 
Allen Beteiligten war klar geworden, dass die Aufgabenliste der Staatengemeinschaft ergänzt werden musste. Zur Sicherung des Weltfriedens und der Bekämpfung von Armut, Hunger und Krankheiten sollte schon in naher Zukunft das Ziel kommen, das Leben auf der Erde in seiner ganzen Vielfalt (Fachleute sprechen von Biodiversität) zu erhalten. Diese ganz anders geartete, weil nicht mehr auf den Menschen direkt bezogene Herausforderung war vielen noch fremd. Sie ist auch häufig missverstanden worden. Denn die Konferenz von Rio hatte eigentlich ganz klar herausgearbeitet, dass als Gegenstück zur Erhaltung der Lebensvielfalt die zukunftsfähige Entwicklung hinzukommen muss.
 
Diese Idee der »nachhaltigen Entwicklung« (sustainable development) schließt drei Kernpunkte ein, nämlich erstens, dass die Entwicklungen wirtschaftlich tragbar (ökonomisch) sein müssen, dass sie zweitens sozialverträglich und drittens auch umweltverträglich zu sein haben. Umweltverträglichkeit wird dabei nicht mehr nur im Hinblick auf den Menschen und seine Ansprüche definiert. Sie schließt nach dem ausdrücklichen Willen der Konferenzteilnehmer nunmehr auch die Erhaltung der Artenvielfalt mit ein, die zu einem zentralen Anliegen für die Zukunft erklärt wurde.
 
 Späte Entdeckung
 
Fachleuten war schon lange vor der Konferenz von Rio klar gewesen, welche Bedeutung ein großer, ja umfassender Ansatz zur Bewahrung der Vielfalt des Lebens auf der Erde hätte. Jahrzehntelang schon machten Biologen und Naturschützer auf den starken Rückgang vieler Arten und deren drohendes Aussterben aufmerksam. Zahlreiche Arten hatte der Mensch zwar in den vergangenen Jahrhunderten mit Sicherheit und in den letzten zehn Jahrtausenden mit großer Wahrscheinlichkeit bereits ausgerottet. Doch erst in unserer Zeit drohte die Vernichtung katastrophale Ausmaße anzunehmen. Diese Tatsache akzeptierten auf der Konferenz von Rio nicht nur die reichen Staaten, die sich den Schutz von Arten und der natürlichen Lebensgrundlagen leisten können, sondern auch die Entwicklungsländer, in denen Millionen von Menschen buchstäblich ums Überleben ringen.
 
Die Vertreter der Dritte-Welt-Staaten erkannten, dass die natürliche Vielfalt viel mehr ist als eine Gartenschau mit bunten Blumen oder ein Zoo voller kurioser Tiere. Man kann sie auch nicht in botanischen oder zoologischen Gärten erhalten. In der Artenvielfalt steckt das in Jahrmillionen von den Lebewesen angesammelte Wissen über den Umgang mit der Natur. Diese im Erbgut der Pflanzen und Tiere verschlüsselte Information vermag die moderne Biologie inzwischen nicht nur zu entziffern, sondern auch gezielt nutzbar zu machen. »Genetische Ressourcen« wurde dieser Quell an biologischer Information genannt. Manches Gen, das heute eine Nutzpflanze widerstandsfähiger gegen schädliche Viren, Pilze und Insekten macht oder das auf andere Weise zur Ertragssteigerung beiträgt, stammt von einer frei lebenden Wildform.
 
Aus einer riesigen Zahl von Pflanzenarten isolierten Wissenschaftler Stoffe, die zu Arzneimitteln verarbeitet werden oder für die chemische Industrie bedeutsam sind. Inzwischen haben die Staaten der durch besonderen Artenreichtum gekennzeichneten Tropenzone der Erde den Wert dieser Naturgüter erkannt. Sie bergen Schätze, die weit bedeutsamer sind als ein paar Quadratkilometer neues Weideland oder einige zusätzliche Parzellen zum Anbau von Billigfuttermittel für den Export nach Europa.
 
 Wertewandel trotz Wissenslücken
 
Das von Naturschützern weltweit immer wieder vorgebrachte Argument, die Menschen hätten kein Recht, andere Lebensformen für schnelle, kurzfristige Profite auszurotten, erhielt dringend benötigte Unterstützung, als der kommerzielle Wert der Biodiversität sichtbar wurde. Denn auch das andere Hauptargument, das immer wieder gegen die Vernichtung der Vielfalt angeführt wurde, nämlich die Gefährdung der Stabilität des Naturhaushalts, hatte sich als nicht überzeugend genug herausgestellt.
 
Zu viele Menschen leben nach dem Prinzip »Nach mir die Sintflut« — und es ist den Armen in der Dritten Welt gewiss nicht zu verdenken, wenn sie nach dieser Maxime handeln. Sicher braucht die Natur Artenvielfalt, um stabil zu bleiben und auf die gewohnte Art und Weise zu funktionieren. Aber wir wissen weder, wie viel Vielfalt dazu wirklich nötig ist, noch welche Arten zu den unentbehrlichen gehören. Außerdem zeigte die kurzfristige Erfahrung, dass die Welt nicht unterging, weil da oder dort der Wald gerodet und dabei Arten vernichtet wurden.
 
Bis zur Konferenz von Rio und der allmählichen Entdeckung des Werts der Biodiversität blieben daher die Warnungen und Mahnungen der Naturschützer weithin unbeachtet. Die Menschheit hatte sich um Wichtigeres zu kümmern als um winzige Käfer oder bunte Urwaldblumen. Naturschutzgebiete wurden selbst in den reichen Staaten nicht richtig ernst genommen und in ihrer Bedeutung oft missverstanden. Heute ist das anders: Schutz, Erhaltung und Förderung der Artenvielfalt und der Lebensräume der Arten sind zu zentralen Bestandteilen der globalen Entwicklung geworden. Die Menschheit beginnt zu begreifen, dass es allemal besser sein wird, mit der natürlichen Vielfalt zu leben und die Zukunft zu gestalten. Diese rasch wachsende, sich ausbreitende Überzeugung ruht auf drei Säulen: dem kommerziellen Nutzen der Vielfalt, der Notwendigkeit dieser Vielfalt für die Erhaltung des Naturhaushalts und der ethischen Verpflichtung des Menschen, die sich auf die folgenden Generationen, auf die Umwelt und seine Mitgeschöpfe auf diesem Planeten erstreckt.
 
 Gewachsene Vielfalt, den Katastrophen zum Trotz
 
Seit dreieinhalb Milliarden Jahren bringt der Strom des Lebens unablässig neue Arten hervor. Es liegt im Wesen der Evolution, dass das Sterben als unverzichtbares Gegenstück des Werdens zu keiner Zeit die Entfaltung des Lebens ernstlich in Gefahr bringen konnte. Mitunter sah es tatsächlich sehr schlecht aus für die Erdbewohner, etwa als Riesenmeteoriten auf dem Planeten einschlugen. Die letzte einer ganzen Reihe derartiger kosmischer Katastrophen fand vor 65 Millionen Jahren im heutigen Golf von Mexiko statt. Der Einschlag, der vermutlich die Vorherrschaft der Dinosaurier beendete, wirbelte so viel Staub und Asche auf, dass sich der Himmel für viele Jahre verfinsterte. Mit den Riesenechsen starben zahlreiche andere Lebensformen in erdgeschichtlich kurzer Zeit aus — ein Einschnitt, den Fachleute heute als Markierung für die Grenze zwischen dem Erdmittelalter und der Erdneuzeit nutzen.
 
Für das Leben auf der Erde bedeuteten ähnliche Ereignisse wie globale Klimaveränderungen oder Schwankungen in der Zusammensetzung der Erdatmosphäre Untergang und Neubeginn zugleich. Viele Arten, im Extremfall des frühen Erdaltertums waren es über 90 Prozent, verschwanden im Zuge dieser Faunen- oder Florenschnitte.
 
Ohne die vor 65 Millionen Jahren erfolgte Vernichtung der Dinosaurier und anderer Großtiere wäre die Erfolgsgeschichte der Säugetiere und der Vögel schwer vorstellbar. Denn die Vorfahren jener Vögel und Säuger, die sich nach der Katastrophe so großartig entfalteten, lebten schon viele Millionen Jahre lang mit den Dinosauriern zusammen. Erst die Vernichtung der Konkurrenz beendete das Schattendasein der Warmblüter und eröffnete ihnen neue Entwicklungsmöglichkeiten.
 
So zeigen die Fossilien der Erdgeschichte, dass der größte Teil aller Lebewesen, welche der Prozess der Evolution hervorbrachte, auch wieder ausgestorben ist. Die mittlere »Lebenserwartung« einer Art mag bei knapp einer Million Jahre bis zu mehreren Jahrmillionen gelegen haben. Dann traten neue, andere Formen an ihre Stelle. Dabei fand der Wechsel keineswegs nur nach gewaltigen Naturkatastrophen statt, wie dem Einschlag eines großen Himmelskörpers, gewaltiger Vulkanausbrüche oder recht plötzlicher Veränderungen des Meeresspiegels. Auch in den »Ruhezeiten« der Erdgeschichte vollzog sich allmählich und kontinuierlich der Wandel. Stets glich dabei die Neubildung von Arten erlittene Verluste wieder aus oder erzeugte in der Bilanz sogar einen Überschuss.
 
Während der Katastrophen übertrafen zwar die Verluste die Neubildungsrate ganz beträchtlich, aber die Entwicklung der Arten in der Zeit danach holte auf, was das Unglück vernichtete. Über einen Zeitraum von mehreren Milliarden Jahren nahm die Vielfalt des Lebens auf der Erde immer weiter zu. Deshalb leben wir heute — noch — auf einem Planeten der Lebensfülle.
 
 Der Mensch
 
Für mehr als fünf Millionen Jahre blieb die gewachsene Vielfalt unbeschadet, obwohl der Mensch die Bühne des Lebens betreten hatte. Unsere ferneren und näheren Vorfahren hatten sich aus einem Urahnen entwickelt, den wir mit Schimpansen und Gorillas gemein haben. Die frühen Vertreter der Menschheit waren zunächst wie andere Arten über die Savannen Afrikas gestreift und hatten sich dann, vor knapp zwei Millionen Jahren, auch über Eurasien ausgebreitet. Wir haben keine Hinweise, dass sie andere Arten bereits ausgerottet hätten. Möglich ist es jedoch, dass sie sich untereinander stark bekriegten und nur jene Gruppen überlebten, welche die anderen, konkurrierenden vernichten konnten.
 
Eine dramatische Wendung nahm das Wechselspiel des Menschen mit seiner Umwelt jedoch in den letzten Jahrtausenden der Eiszeit, also vor etwa 30000 bis 40000 Jahren. Die Menschen dieser Epoche, in der sich die Altsteinzeit im Dunkel der Geschichte verliert, waren weitestgehend wie wir: anatomisch moderne Menschen, geistig hoch entwickelt und fähig, in ihre Umwelt nachhaltig einzugreifen.
 
Sie fertigten die großartigen Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira und mit so wundervollen Darstellungen von Wisenten und Urwildpferden, von Hirschen und anderen Tieren, dass man diesen die Funktion von Jagdzauber zuschreibt. Die dunkle Seite der Kunstfertigkeit unserer Vorfahren belegen indes die massenhaften Funde von Skelettüberresten der Beutetiere.
 
Die Knochenberge machten klar, dass die Eiszeitjäger einige, wenn nicht die meisten der Großtierarten ihrer Zeit ausgerottet hatten. Vorgeschichtsforscher sprechen vom pleistozänen Overkill, dem eiszeitlichen Massentöten, und sehen darin die ersten Zeugen der Ausrottung anderer Arten durch den Menschen.
 
Diese Phase dauerte bis tief in die geschichtliche Zeit, ja fast bis zur Gegenwart an. So kennen wir das Schicksal des Ur- oder Auerochsen, der als Wildform unserer Hausrinder bis ins Mittelalter überlebte, wie auch einiger anderer Großsäuger und Vogelarten, die bis an die Schwelle der Neuzeit durchhielten, aber dann doch vollends ausgerottet wurden, schon recht genau.
 
Präzise Daten haben wir von später vernichteten Arten wie der Stellerschen Seekuh oder des nordatlantischen, pinguinartigen Riesenalks, dessen letzte Vertreter am 3. Juni 1844 getötet wurden. Das letzte Exemplar der Wandertaube verstarb am 1. September 1914 im Zoo von Cincinnati. Einst hatten diese Vögel in Millionenschwärmen den Osten der heutigen Vereinigten Staaten besiedelt. Ob Elefantenvögel auf Madagaskar, die flugunfähigen Riesenstrauße (Moas) auf Neuseeland oder die großen Wale — stets fällt ihr Niedergang mit dem Auftreten und den Nachstellungen des Menschen zusammen. Er ist unzweifelhaft zu einer der Hauptursachen der Ausrottung von Arten geworden. Am schlimmsten wütete er überall dort, wo von Natur aus die Bestände der Arten, die er verfolgte, klein waren, wie auf entlegenen Inseln Ozeaniens.
 
Aber auch große Tiere, die sich nur langsam fortpflanzen, jagte der Mensch nicht selten bis an den Rand der Ausrottung. So gelang es den nordamerikanischen Büffeljägern mit ihren europäischen Gewehren in wenigen Jahrzehnten, die Riesenherden der Präriebüffel fast völlig zu vernichten. Wenigstens 50, vielleicht aber auch 80 Millionen Bisons hatten bis zur Ankunft der Europäer die Landschaften Nordamerikas auf ihren jährlichen Wanderungen durchstreift. Zuvor hatten zahlreiche Indianerstämme von den Büffeln gelebt, ohne sie zu dezimieren. Inzwischen sind diese längst von einem Heer von Rindern ersetzt.
 
Hinsichtlich ihrer Zahl und Masse entsprechen die Nutztiere der ursprünglichen Menge an Bisons, nicht aber im Hinblick auf deren Rolle im Naturhaushalt. Als Schlüsselspezies hatten die Präriebüffel nämlich den einzigartigen Charakter der Graslandschaft entscheidend geprägt. Sie regulierten nicht nur das Pflanzenwachstum, sondern waren als Teil der Nahrungskette zugleich Lebensgrundlage für Raubtiere und Aasfresser gewesen.
 
 Vom Overkill zum Artenschutz
 
Das vom Menschen verursachte Artensterben lässt sich grob in drei Phasen unterteilen. In der ersten, schon während der letzten Eiszeit beginnenden Phase, dezimierten unsere jagenden Vorfahren nach und nach die Bestände jener Großtierarten, die von den Gräsern und Kräutern der eiszeitlichen Tundra lebten. Dieser Phase fiel die eiszeitliche Großtierfauna (pleistozäne Megafauna) vorwiegend in Eurasien und Nordamerika zum Opfer. Bezeichnenderweise überlebten bei manchen Arten, die widerstandsfähig genug waren, letzte Restbestände im äußersten Nordosten Asiens und im hohen Norden Amerikas — also genau in jenen Regionen, in die die Menschen aus klimatischen Gründen nicht hinkamen oder in denen sie zumindest nicht auf Dauer leben wollten.
 
Die zweite Phase traf die Großsäuger und -vögel der Südkontinente und Inseln mit Ausnahme Afrikas. Sie reichte bis ins Mittelalter und zum Teil noch darüber hinaus in die Neuzeit. Betroffen waren Australien als Kontinent, die großen Inseln Madagaskar und Neuseeland sowie zahlreiche kleinere Inseln. Die dritte Phase lässt sich etwa mit dem Jahr 1492 unserer Zeitrechnung, der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und der rasch folgenden Ausbreitung der Europäer bis in die entlegensten Winkel der Erde festlegen. Zu Land und zu Wasser beschleunigte die Benutzung von Fernwaffen wie Gewehren und Harpunen den Verlauf von Ausrottungen ganz erheblich und trieb die Vernichtungsrate bei Vögeln und Säugetieren zum bisherigen Gipfel. Er variiert zeitlich, je nach Region und betroffenen Arten, zwischen dem beginnenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert.
 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen, die zuvor nur vereinzelt zu vernehmen waren und kein Gehör fanden, der Vernichtung Einhalt zu gebieten. Mit der Errichtung der ersten Nationalparks in Amerika und Europa, bald auch auf den anderen Kontinenten, kam die Trendwende.
 
Wenigstens die größeren, »schönen« Tiere wurden als schützens- und erhaltenswert erkannt und eingestuft. In Mitteleuropa und Nordamerika begann rasch eine Blütezeit des Vogelschutzes. Die Schlacht schien trotz großer Verluste gewonnen.
 
 Das Schöne bewahren
 
Keine größere Säugetier- und Vogelart starb in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr aus. Für die hochgradig bedrohten Arten wurden umfangreiche, weltumspannende Schutzprogramme entwickelt — bis hin zum Washingtoner Artenschutzübereinkommen von 1974, das den Handel mit vom Aussterben bedrohten Arten generell und grundsätzlich untersagt.
 
Der Handel mit Tieren und Wildpflanzen wurde zunehmend besser und schärfer kontrolliert. Gar mancher Tourist sah sich plötzlich der Tatsache gegenüber, dass ihm am Zoll der, wie er meinte, rechtmäßig erworbene Schildkrötenpanzer oder das wunderschöne Schnitzwerk aus Elfenbein ersatzlos abgenommen wurde.
 
Der Handel mit den Fellen gefleckter Katzen, besonders von Jaguar, Leopard und Ozelot, kam so gut wie zum Erliegen, und wer sich mit einem Mantel aus solchen Fellen in die Öffentlichkeit wagte, musste mit Anfeindungen rechnen. Der Artenschutz hatte sich, so schien es, vollends und endgültig durchgesetzt. Natürlich blieb (und blühte) da und dort der Schmuggel, wurden Geschäfte am Rand der Legalität oder mit vollem Risiko gegen bestehende Gesetze gemacht. Aber die Bestände der meisten geschützten Arten erholten sich und bestätigten so den Sinn der Schutzmaßnahmen.
 
Der Leopard ist heute in seinem afrikanischen Verbreitungsgebiet nicht mehr akut bedroht, die Elefanten vermehrten sich insbesondere im südlichen Afrika so stark, dass sie zum Hauptproblem für die Schutzgebiete geworden sind. Selbst die stark bejagten Walarten haben sich dank der Schutzmaßnahmen und des Verbraucherverhaltens in beachtlichem Umfang wieder erholt. Heute erwirtschaften Länder wie Norwegen mit dem Beobachten von Großwalen mehr Geld als früher mit dem Walfang.
 
Die Großschutzgebiete in Afrika, in Nordamerika und sogar manche der europäischen Schutzgebiete sind wieder voll von Wild. Auf manche Arten richten Jäger wieder begehrlich ihre Augen, weil es ihnen inzwischen vertretbar erscheint, Großwild zu jagen, das jahrzehntelang tabu war. Sogar bei den Seltensten der Seltenen, etwa dem Großen Panda oder der in Freiheit schon ausgerotteten Arabischen Oryx-Antilope, geben Erfolgsmeldungen Hoffnung. Mehr als ein Dutzend größerer Tierarten, darunter auch Przewalski-Wildpferde und Bartgeier, wurden erfolgreich aus Zoonachzuchten in Freiheit ausgewildert.
 
Der in Europa fast vollständig bis auf drei kleine Restvorkommen an der mittleren Elbe, an der unteren Rhone und im südöstlichen Norwegen ausgerottete Biber ist höchst erfolgreich wieder eingebürgert worden. Fast alle europäischen Teile seines ursprünglichen Vorkommens hat er inzwischen wieder besiedelt und gesicherte Bestände aufgebaut. Noch erfolgreicher verliefen die Wiedereinbürgerungen der nordamerikanischen Biber in weiten Bereichen der Vereinigten Staaten und Kanadas. Heute leben wieder Biber im US-Bundesstaat New York, der diese Tierart in seinem Wappen trägt. Ob Seehundbestände im Wattenmeer der Nordsee, Ringelgänse an den Küsten oder Silberreiher aus dem europäischen Südosten, viele Arten erleben gegenwärtig einen Aufschwung, den vor einem Vierteljahrhundert selbst sehr optimistische Naturschützer nicht zu erhoffen gewagt hätten.
 
Wie kann es da, bei all diesen Erfolgsmeldungen, immer noch so schlecht um die Artenvielfalt bestellt sein, dass der Umweltgipfel von Rio der Erhaltung der Biodiversität einen so herausragenden Platz für die Zukunft zugewiesen hat?
 
Prof. Dr. Josef H. Reichholf
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Artenreichtum und Biodiversität: Wie viele Arten gibt es?
 
 
Dobson, Andrew P.: Biologische Vielfalt und Naturschutz. Der riskierte Reichtum. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1997.
 
Ende der biologischen Vielfalt? Der Verlust an Arten, Genen und Lebensräumen und die Chancen für eine Umkehr, herausgegeben von Edward O. Wilson. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1992.
 Reichholf, Josef: Der tropische Regenwald. Die Ökobiologie des artenreichsten Naturraums der Erde. München 31991.
 Wilson, Edward O.: Der Wert der Vielfalt. Die Bedrohung des Artenreichtums und das Überleben des Menschen. Aus dem Amerikanischen. Taschenbuchausgabe München u. a. 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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